ILONA  KEIL

 

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Es regnet seit dem frühen Morgen. Ich liebe den Regen. Ich liebe auch den Geruch vom nassen Staub auf den Straßen. Es gibt verschiedene Formen von Regen, aber manchmal denke ich, dass sie alle eine reinigende Erlösung mit sich bringen – so als ob man uns von der Last des Alltags und unseren Sorgen befreien wollte. Die Sonne, die uns nach dem Regen belächelt, und die erfrischende nasse Luft versuchen in uns die reine Freude am Sein zu erwecken. Und der Regenbogen zeigt uns, mit welcher Leichtigkeit  man die ganze Welt umarmen kann. Als ich noch klein war und es regnete, sagte ich immer, dass der Himmel weine. Eigentlich sage ich das immer noch. Weiß nicht warum, aber das gefällt mir ... Ich stehe auf und öffne das Fenster: Die Autos fahren eilend unsere Straße entlang. Bunte Regenschirme gehen jeder seinen Weg. Manche stehen an der Haltestelle und warten auf den Bus. Ein Bus kommt, verschluckt alle stehenden Regenschirme und fährt weg. Es bleibt nur die nasse Haltestelle zurück.


Durch die Wolken haben sich ein paar Sonnenstrahlen durchgekämpft. Der Regen lässt langsam nach. Ich warte auf den Regenbogen. In der Ferne höre ich die Kirchenglocken, da klingelt das Telefon. Ich hebe ab und höre die Stimme, die ich liebe. Die Stimme möchte gerne bei mir sein, doch leider geht das nicht. Die Stimme ist weit weg. Wie gern würde ich bei meiner Stimme sein, dort wo die Berge den Himmel berühren. Dort, wo man eine unglaubliche Kraft in sich spürt, weil man mit der Mutter Erde eins ist. Die Kirchenglocken läuten immer noch. Ich komme wieder zum Fenster und sehe zum Himmel hinauf. Die Wolken ziehen weiter nach Westen und nehmen den Regen mit. Die Sonne scheint schon mit all ihrer Pracht und der Regenbogen spielt mit Farben am Himmel. Die Sonnenstrahlen springen ins Zimmer herein und beginnen fröhlich ihre Spielreihen auf meinem Fußboden.


Ich lege Musik auf ... mein bequemer Sessel erwartet mich schon. Ich wollte ein Buch nehmen, aber vorher bereite ich mir noch einen Tee. Auf einmal steht im Zimmer der Duft weißer Chrysanthemen. Es schien mir, als ob die Musik ihn zu mir brachte. Ich muss immer an Rilke denke, wenn es nach Chrysanthemen duftet. Ich schließe die Augen und verliere mich – sanft vorbei fließend – in Musik. 


Die Gedankenlosigkeit findet mich mit einem Lächeln am Strand. Ich stehe am Meer und bin frei. Der Wind tanzt über das Wasser und ich kann schon den salzigen Wassergeruch in meinen Lungen spüren. Ich breite die Hände aus und schaue in den hellblauen Himmel. Ich spüre den Wind auf meinem Gesicht und höre den Möwenschrei aus der Ferne. Ich bin vogelfrei – einfach frei, frei von allem. Und ich wollte da sein, wo das Wasser zum Himmel und der Himmel zum Wasser wird. Dann werde ich auf einmal nicht mehr Ich, sondern das Meer, der Himmel, die Luft und die Sonne sein – und man braucht schon Nichts mehr, weil man selbst zum Allen geworden ist. Dieses Gefühl kommt unerwartet als die einzig mögliche Wahrheit und es dauert nicht mal eine Sekunde. Man denkt an nichts – tief im Inneren weiß man ohnehin alles. Dieses Gefühl von Glück  beherbergt eine überraschende Leichtigkeit ... Aber da kommen die Stimmen. Sie stehen hinter mir. Die Stimmen wollen unbedingt, dass ich mich entscheide. Ich weiß nicht genau, wer sie sind und für was ich mich entscheiden soll. Ohne mich umzudrehen, bitte ich sie zu gehen. Ich werde mich heute nicht entscheiden. Nicht heute, ein andermal vielleicht. Diese Zeit hier am Meer ist mir viel zu kostbar. Ich kann den salzigen Wassergeruch in meinen Lungen und den leichten Wind auf meinem Gesicht noch spüren, den Wind, der über das Wasser tanzt ...


Ich öffne die Augen. Ich kann mich noch gut an das Gefühl des Freiseins erinnern. Habe ich etwa geschlafen? War das tatsächlich ein Traum? Woran erkennt man die Realität? Was macht uns so sicher, dass wir in der Realität sind und nicht in einem Traum? Wo läuft die Grenze dazwischen, mit offenen Augen zu träumen? Ich versuche einen Dialog „was wäre wenn“ mit mir selbst nicht anzufangen. Das undankbarste und dümmste Gespräch aller Zeiten und es kostet viel Kraft. Ich stehe auf und gehe das Fenster zumachen. Der Regen hat schon lange aufgehört und es wird kühler. Als ich dann aus dem Fenster schaue, sehe ich einen Mann und eine Frau auf der anderen Straßenseite. Der Mann trägt die Frau auf den Händen schnell zum Auto. Mein erster Gedanke ist: Sie erwartet ein Kind und sie müssen jetzt schnell ins Krankenhaus. Ich muss lächeln. Aber er steigt nicht sofort ins Auto ein und fährt nicht davon. Er holt noch einen Stapel Papier, bringt ihn zum Auto und geht noch einmal zur Treppe. Mein zweiter Gedanke ist: Er hatte heute gute Laune und wollte ein wenig Romantik und Freude in ihren Alltag bringen. Wer trägt schon heutzutage seine Frau auf Händen. Doch dann sehe ich, was er zum Auto trägt – es war ein Rollstuhl.


Im Radio ist Gershwins „Summertime“ zu hören.

Die Musik kommt und bringt das Meeresgeräusch mit sich.

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